[ Pobierz całość w formacie PDF ]
unausgesprochenen Stze, all die versteckten Gefhle und die gan-
zen Dinge, die man fr sich behielt, welche die wunderbare Klarheit
aus Kindertagen auf verwirrende Weise trbten, weil man irgend-
wann erkannt hatte, dass es im Leben nicht nur eine Wahrheit gab?
Als Rosalie in das offene Gesicht des Jungen blickte, von dessen
unbekmmertem Mienenspiel jede seiner Regungen gleich
abzulesen war, wurde sie fast ein wenig neidisch.
William Morris war zu ihrem Stuhl zurckgekehrt, und sie nahm
ihn wieder an die Leine. Er hockte sich vor sie hin und sah sie mit
hngender Zunge und ergebenem Blick an. Geistesabwesend
kraulte sie sein weiches Fell, whrend sie das Segelboot weiter im
Auge behielt.
Hatte sie Ren die ganze Wahrheit gesagt? War die Tatsache,
dass sie die Illustratorin des Buches war oder sich Sorgen um die
Reputation von Max Marchais machte, wirklich der einzige Grund
fr ihr bergroes Interesse an dieser Geschichte, die sie wie ein
Magnet anzuziehen schien? Sagte Robert Sherman die Wahrheit?
Wrden sie in dem geheimnisvollen Manuskript, das der Beweis fr
162/308
die Ehrlichkeit seiner Worte sein sollte, einen Hinweis finden?
Konnte man ehrlich sein und trotzdem nicht die Wahrheit sagen?
Und was war mit Max, der auch und so vehement die Urheber-
schaft fr sich beanspruchte? Hatte er vielleicht doch gelogen?
Bei ihrem Abendessen im Marly hatte Sherman nicht ganz zu
Unrecht darauf hingewiesen, dass der Autor seit mehr als siebzehn
Jahren kein Buch mehr geschrieben hatte. Vielleicht weil ihm die
Ideen ausgegangen waren? Konnte es sein, dass Marchais auf eine
alte Geschichte zurckgegriffen hatte, die mglicherweise nicht ein-
mal seine Geschichte war?
Und wem galt die Widmung in dem Buch wirklich?
Das ganze Wochenende ber hatte Rosalie versucht, Max zu er-
reichen, um ihm diese wichtige Frage zu stellen. Doch er war nicht
ans Telefon gegangen. Weder auf dem Festnetz noch auf seiner
Mobilnummer hatte sie ihn erreicht. Sie hatte auf dem Mobiltelefon
eine Nachricht hinterlassen und ihn um Rckruf gebeten, sogar mit
dem Hinweis, es sei dringend, doch er hatte nicht zurckgerufen.
Auch an diesem Montag hatte sie es schon seit dem frhen Mor-
gen in Le Vsinet probiert. Jedes Mal lie sie so lange durchluten,
bis der langgezogene Klingelton abbrach und sich in ein hektisches
Besetztzeichen verwandelte. Marchais hatte nicht einmal den An-
rufbeantworter eingeschaltet, wie er es sonst tat, wenn er das Haus
verlie.
Der Schriftsteller schien wie vom Erdboden verschluckt, und
Rosalie beschlich ein eigenartiges Gefhl. Am liebsten wre sie
selbst nach Le Vsinet rausgefahren, um nach dem Rechten zu se-
hen. Doch ausgerechnet heute sollten ab Mittag drei Bewerber-
innen kommen, die sich auf ihren Aushang fr eine Aushilfsstelle
im Laden hin gemeldet hatten.
Max Marchais verreiste schon seit Jahren nicht mehr, und wenn
er vorgehabt htte, wegzufahren, htte er es sicherlich erwhnt.
163/308
Rosalie erinnerte sich an ihr letztes Telefonat vor wenigen Tagen,
an die unangenehmen Fragen, die sie Max gestellt hatte, und wie
schroff und verrgert der alte Mann am Ende gewesen war.
War er ihr bse? Ging er deshalb nicht ans Telefon? Oder hatten
die Anschuldigungen des Amerikaners, von denen sie ihm erzhlt
hatte, gar etwas mit seinem Verschwinden zu tun?
Sie beugte sich vor, hob einen kleinen Kieselstein vom Boden auf
und warf ihn weit ber das Wasser. Das Steinchen tauchte in die
silbrige Oberflche ein, die wie ein undurchdringlicher Spiegel das
Licht reflektierte, und markierte einen Mittelpunkt, von dem sich
konzentrische Kreise in kleinen Wellen ausbreiteten, bis sie am
Rand des Beckens ankamen. Ursache und Wirkung, dachte Rosalie
pltzlich.
Jede Lge hatte ihre Auswirkungen, zog ihre Kreise, verursachte
Wellen. Und irgendwann kamen ihre Auslufer am Ufer an. Auch
wenn die Lge so klein wie ein Kieselstein war.
Die Unruhe, die Rosalie erfasst hatte und die sich sogar auf William
Morris bertrug, der ihr im Laden stndig vor die Fe lief, so dass
sie ihn schlielich nach oben in die Wohnung verbannte, verlie sie
den ganzen Tag nicht mehr.
Zerstreut machte sie ihre Einkufe, ordnete ein paar Brosachen
und fhrte dann die Bewerbungsgesprche mit der hbschen und
unentwegt kaugummikauenden Mademoiselle Giry, der misan-
thropischen Madame Favrier, die nicht ein einziges Mal whrend
des ganzen Gesprchs lchelte und sich ber die grsslichen Leute
in der Metro beschwerte, und der herzlichen Madame Morel, die
sich als Letzte bei ihr vorstellte. Die Entscheidung war ihr nicht
schwergefallen. Ihre Wahl fiel auf Claudine Morel, die ihr vom er-
sten Moment an sympathisch gewesen war. Eine etwas stmmige
Frau Anfang fnfzig mit kinnlangem braunem Haar, schnen
164/308
groen Hnden und goldbraunen Sommersprossen auf den Armen.
Sie hatte zwei fast erwachsene Kinder und frher in einer kleinen
Buchhandlung gearbeitet, die mittlerweile lngst geschlossen war.
Claudine Morel suchte fr drei Nachmittage in der Woche eine
Arbeit, und sie kamen berein, dass sie in der folgenden Woche bei
Luna Luna anfangen sollte.
Nachdem sie gegangen war, probierte Rosalie es noch mehrere
Male vergeblich bei Max. Sie berlegte sogar kurz, bei Jean-Claude
Montsignac anzurufen. Vielleicht wusste er ja etwas ber den
Verbleib seines Autors. Sie hielt schon die Visitenkarte des Ver-
legers in der Hand, als ihr bewusst wurde, dass ihre Suche nach
Marchais vielleicht zu unangenehmen Fragen fhren konnte, deren
wahrheitsgeme Beantwortung eventuell ein ungutes Licht auf
den Autor warf. Nein, es war keine gute Idee, andere da mit hinein-
zuziehen. Sie wollte erst selbst mit Max sprechen. Er war ihr Fre-
und, und das war sie ihm schuldig. Zgernd lie sie die Visitenkarte
wieder sinken.
An diesem Abend sollte das Telefon noch drei Mal klingeln. Jedes
Mal riss Rosalie den Hrer ans Ohr, in der Erwartung, die Stimme
von Max Marchais zu hren. Doch der Autor hatte sich in Schwei-
gen gehllt.
Beim ersten Mal war es Robert Sherman, der ihr erzhlen wollte,
dass das Manuskript bereits auf dem Weg sei und wohl im Laufe
des nchsten Tages in Paris eintreffen wrde. Beim zweiten Mal
war Ren am Apparat, der ihr mit bedauernder Stimme mitteilte,
[ Pobierz całość w formacie PDF ]